Osaritschi

Die Sterbelager

Osaritschi, 3. Juli 1997: Treffen von ehemaligen Häftlingen vor dem neuen Denkmal aus dem Jahr 1994

Belorusskij gosudarstwennyj muzej istorii Welikoj Otetschestwennoj wojny, Minsk

Bei ihrem Rückzug im Frühjahr 1944 treibt die deutsche Wehrmacht Zehntausende Zivilisten vor sich her. Anfang März richtet die 9. deutsche Armee der Heeresgruppe Mitte unter Oberbefehlshaber Josef Harpe (1887–1968) drei mit Stacheldraht umzäunte Notlager in einem Sumpfgebiet nahe der Dörfer Osaritschi, Dert und Podosinnik südöstlich von Minsk ein. Erklärtes Ziel ist es, »Seuchenkranke, Krüppel, Greise und Frauen mit mehr als zwei Kindern unter zehn Jahren sowie sonstige Arbeitsunfähige« loszuwerden. Die 35. Infanteriedivision unter General Georg Richert (1890–1946) und das Sonderkommando 7 a der SS-Einsatzgruppe B treiben zwischen dem 12. und dem 16. März etwa 50.000 erschöpfte und hilflose Zivilisten dorthin.

Bis zum Einmarsch der 65. Armee der 1. Belorussischen Front am 17. März 1944 kommen – unter freiem Himmel, ohne Wasser und ohne Nahrung – zwischen 9.000 und 13.000 Kinder, Frauen und Männer um. Dieses kalkulierte Massensterben durch Fleckfieber, Hunger und Kälte gilt als eines der schwersten Verbrechen der Wehrmacht gegen Zivilisten im Zweiten Weltkrieg.

Photo_1.1

Josef Prerau bei einem Feldgottesdienst. Er veröffentlicht 1962 sein Buch »Priester im Heere Hitlers. Erinnerungen 1940–1945«.

gemeinfrei

»Frauen haben ihre Kinder, die sie nicht mehr tragen konnten, am Wege liegen lassen. Auch sie wurden erschossen, wie überhaupt alles ›umgelegt‹ wird, was wegen Krankheit, Alter und Schwäche nicht mehr weiter kann.«

Josef Perau (1910–2004), Feldgeistlicher der 129. Infanteriedivision und Augenzeuge

Photo_1.2

Osaritschi, 18. März 1944: die Begrenzung des Lagers mit Opfern des Minengürtels

Aufnahme: Podschiwalow

Photo_1.3

Osaritschi, 18. März 1944: die dreijährige Tanja mit ihrer toten Mutter

Aufnahme: Podschiwalow

Photo 1.5

Marija Makarowa Rytschankowa aus dem Dorf Wiritschew mit ihren drei Kindern auf dem Weg in die Siedlung Osaritschi am 19. März 1944; v. l. n. r.: Iwan (*1937), die zweijährige Fenja, die am 23. März, und die vierjährige Anja, die am 29. März an den Folgen der Haft versterben

Alperin

Photo_1.4

Osaritschi, 19. März 1944: Wassilij Gorban aus Podwiki, Polessje-Gebiet, beerdigt seinen einzigen Enkel, den anderthalbjährigen Wowa, der verhungert ist

Aufnahme: Alperin

NACH DER BEFREIUNG

Bereits unmittelbar nach der Rückeroberung durch die Rote Armee beginnt die Außerordentliche Kommission mit der Beweissicherung in Osaritschi, Dert und Podosinnik. Ihre Untersuchungsergebnisse dienen der antideutschen Kriegspropaganda und 1945/46 als Beweisdokument beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess. General Richert wird im Minsker Prozess wegen seiner Beteiligung an den Todeslagern um Osaritschi zum Tode verurteilt und am 30. Januar 1946 auf der Pferderennbahn gehenkt. Die Hauptschuldigen bleiben allerdings unbehelligt. 1965 entsteht ein Denkmal am historischen Ort, dennoch werden die Opfer in der Sowjetunion kaum öffentlich gewürdigt. Erst in der unabhängigen Republik Belarus können sie über ihre Erlebnisse berichten. 1994 wird ein neues Denkmal eingeweiht. Nach und nach wird es um ein kleines Museum und eine russisch-orthodoxe Kapelle ergänzt.

Photo_Newspaper

Seite 3 der Tageszeitung Rote Armee vom 20. April 1944 mit einem Bericht über das »Todesslager« in Osaritschi unter Überschrift: »Wir vergessen dem Deutschen keine Träne, keinen Tropfen Bluts!«

Krasnaja Armija / Zeitungsabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz

Photo 6

Überlebende sprechen mit Offizieren und Soldaten der Roten Armee.

Belorusskij Gosudarstvennyj Muzej Istorii Velikoj Otechestvennoj Vojny Minsk

Photo 7

Angehörige der Außerordentlichen Kommission bei der Arbeit. Standbild aus dem Kinofilm

Die Befreiung Sowjetbelorusslands von den deutsch-faschistischen Okkupanten.

Walentina Schischlo
1936

Walentina Schischlo Ende der 1940er Jahre

Privatbesitz Familie Schischlo

Walentina Schischlo wird am 10. Februar 1936 im Dorf Beliza bei Schlobin geboren. Ihr Vater ist Offizier der Roten Armee und gerät bereits 1941 in deutsche Gefangenschaft. Während der Besatzung lebt die Familie in Beliza bei dessen Eltern. 1943 werden sie gezwungen, in einem Pferdestall zu hausen. Neben Einheimischen sind dort auch Zivilisten untergebracht, die aus Smolensk vertrieben worden waren.

Walentina ist acht Jahre alt, als sie im März 1944 zusammen mit ihrer Mutter Nina Danilowa und ihren vier Geschwistern von der Wehrmacht in das Lager bei Osaritschi verschleppt wird. Die Familie ist mehrere Tage unterwegs und muss dabei im Freien übernachten. Drei jüngere Brüder, Garik, Marat und Boris, kommen im Lager um. Walentina und ihre Schwester Klara überleben dank der Großmutter Warwara, die die Kinder auf den Schafspelz eines Toten bettet. Dennoch erkrankt Walentina an Typhus und muss nach der Befreiung in einem Lazarett behandelt werden.

Photo_1

Walentinas Vater Fjodor Danilow, 1941. Als Gefangener kommt er ins Konzentrationslager Dachau und wird auf dem SS-Schießplatz Hebertshausen ermordet.

Privatbesitz Familie Schischlo

Photo_2

Walentinas Mutter Nina Danilowa, 1937

Privatbesitz Familie Schischlo

Photo_3

Walentina mit ihrer Mutter Nina und Schwester Klara (v. l. n. r.), Ende der 1940er Jahre.

Privatbesitz Familie Schischlo

»Wir starben einfach einen furchtbaren Tod. Das waren Hunger, Kälte und Typhus.«

»Am Morgen hat uns keiner geweckt, die Hunde bellen nicht, es ist kein Laut zu hören und langsam heben alle den Kopf, wer noch kann, steht auf. Da kommen sie, unsere Retter. Oh, wie vielen Menschen es das Leben kostet, denn alle stürzen ihnen [den Soldaten] entgegen. Und sie rufen: ›Bleibt da, rührt euch nicht vom Fleck […] die haben ja das ganze Lager vermint.‹«

Gespräch mit Walentina Schischlo am 21. Dezember 2018 in Minsk

Photo_4

Walentina Schischlo im Museum in Osaritschi, 1990er Jahre. Die gelernte Technologin vermittelt seit Jahrzehnten ihre Erlebnisse als Zeitzeugin. Seit 2010 leitet sie den Ortsverein der Osaritschi-Überlebenden in Minsk.

Privatbesitz Familie Schischlo

Duderstadt (Niedersachsen), August 2017: Walentina Schischlo und andere Überlebende aus den Lagern bei Osaritschi zu Besuch auf Einladung des Maximilian-Kolbe-Werks.

Privatbesitz Familie Schischlo

Duderstadt (Niedersachsen), August 2017: Walentina Schischlo und andere Überlebende aus den Lagern bei Osaritschi zu Besuch auf Einladung des Maximilian-Kolbe-Werks.

Privatbesitz Familie Schischlo

Diese Webseite verwendet unterschiedliche Cookies. Wir verwenden Cookies, um Inhalte zu personalisieren, Funktionen für soziale Medien anbieten zu können und die Zugriffe auf unsere Website zu analysieren. Einige Cookies werden von Drittparteien platziert, die auf unseren Seiten erscheinen. Nähere Informationen und Möglichkeiten zur Auswahl finden Sie in unserer Datenschutzerklärung und in den Einstellungen zur Verwendung von Cookies. .

Akzeptieren Ändern